Verschiedene Obstbäume auf eine Wiese in der Nähe des Hauses zu pflanzen, ist eine alte Tradition. Hieraus entwickelte sich der weitverbreitete Streuobstbau, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts seine Hochblüte erlangte. Zu dieser Zeit kam dem Streuobstbau eine bedeutende wirtschaftliche Stellung zu. Im letzten Vierteljahrhundert sind allerdings mindestens 70 % der Obstbäume aus unserer Landschaft verschwunden. Die verbliebenen, meist ortsnahen Restbestände sind besonders durch die Ausweisung von Wohn- und Gewerbegebieten, Straßenbau, Umwandlung in Ackerflächen sowie Vernachlässigung der Pflege gefährdet.
Heimat für mehr als 3.000 Tierarten
Im Übergang zwischen Siedlungs- und Agrarflächen und dem Wald erfüllt die Obstwiese zahlreiche Funktionen. Im Vergleich zu modernen Obstplantagen bieten die Hochstämme auf Grünland Lebensraum für viele seltene Tiere und Pflanzen. Streuobstwiesen mit ihrem unterschiedlichen Baumbestand (mehrere Baumarten verschiedener Altersklassen) bilden die Grundlage dieser kostbaren Biotope. Eine extensiv genutzte Streuobstwiese kann bis zu 3.000 Tierarten beherbergen. Allein die besonders alten Bäume bieten einen Lebensraum für mehr als 1.000 wirbellose Tierarten. Obstbäume mit natürlichen Baumhöhlen gelten als ausgesprochen wertvoll, da sie Fledermäusen, Bilchen (Nagetiere wie z. B. Siebenschläfer) und Vögeln wie dem Wendehals Unterschlupf bieten und zur Aufzucht ihrer Jungen dienen. Auch stark bedrohte Vögel, wie etwa der Steinkauz, leben als Kulturfolger bevorzugt in Streuobstgebieten. Eine Steinkauzehe hält auf Lebenszeit. Auch ihr Brutplatz, meist ein hohler Baum, wird über Jahre beibehalten. Die Nahrung besteht aus Insekten, Mäusen und kleinen Vögeln. Durch das Verschwinden der alten Bäume findet die kleine Eule immer weniger Brutmöglichkeiten, so dass es nötig wird, künstliche Bruthöhlen (Steinkauzröhren) anzubringen.
Der Lebensraum Holz beherbergt viele Insektenarten, darunter gefährdete Pracht- und Bockkäferarten wie den Moschusbockkäfer. Holzbrütende Wildbienen und Schlupfwespen sind ebenfalls auf einen gewissen Totholzanteil angewiesen. Dieser sollte aus ökologischer Sicht zwischen 10-15% der Streuobstwiese betragen.
Seltene Pflanzenarten
Der Unterwuchs von Obsthochstämmen besteht in der Regel aus Glatthafer-Wiesengesellschaften. Aber auch hier finden wir gelegentlich seltene und geschützte Pflanzen, z. B. Orchideen. Die Bodenvegetation zeigt charakteristische Merkmale der Nährstoffverhältnisse, des Wasser- und Lichthaushalts sowie des geologischen Untergrunds an.
Entscheidend für die Vielfalt der Pflanzenwelt ist das Fehlen einer regelmäßigen, starken Düngung. Als eine extensive Form der Bewirtschaftung bietet sich die Möglichkeit der Beweidung mit „kleinen Wiederkäuern". Ein Wanderschäfer entscheidet zum Beispiel die Intensität der Beweidung und kann so auch eine eventuelle Verbuschung unterdrücken. Charakterpflanzen der Obstwiese sind neben dem Wiesensalbei der Wiesen-Gelbstern oder die Echte Nelkenwurz. Eine zweimalige Mahd der Wiese (1. Schnitt ab 15. Juni, 2. Schnitt ab 1. September) erhöht die Artenvielfalt.
Schwindende Vielfalt alter Apfelsorten
Heutzutage spielen die Sortenvielfalt der Bäume und das damit verbundene Gen-Reservoir eine große Rolle. Zur Jahrhundertwende gab es allein im deutschsprachigen Raum ca. 2.000 verschiedene Apfelsorten, von denen lediglich 600-800 detailliert beschrieben waren. Sogenannte Lokalsorten, etwa der „Gacksapfel" aus dem Wald bei Berghausen (Kreis Wetzlar), sind an die örtlichen Klimaansprüche und Bodenverhältnisse optimal angepasst. Aber auch die typisch hessischen Sorten, wie „Jakob Fischer", „Rheinischer Bohnapfel" oder „Kaiser Wilhelm" sind wertvolle Apfelarten, die das eintönige Angebot am Markt bereichern.
Zum vielfaltigen Nahrungsangebot der Natur tragen auch Wildobstarten wie Mispel, Holzapfel, Haferpflaume oder Vogelbeere bei. Der ebenfalls zum Wildobst zählende Speierling „Sorbus Domestica" gehört zu den Raritäten in der Obstwiese. Wenige prachtvolle Exemplare dieser Bäume kommen auf das stolze Alter von 300 Jahren.
Hege und Pflege
Um den derzeit überalterten Baumbestand langfristig zu erhalten, müssen jährlich ca. 100.000 Hochstämme gepflanzt werden. Eine fachgerechte Neupflanzung setzt die richtige Standort- und Sortenwahl voraus. Gutes Pflanzmaterial, ein Stützpfahl, ein Kokosstrick sowie eine Drahthose sind ebenfalls Voraussetzung. Der junge Obstbaum benötigt in den ersten zehn Jahren viel Pflege. Dazu gehört das Formieren und Schneiden der Krone, das Wässern im Sommer und die Kontrolle der Anbindung und des Verbissschutzes. Bei großflächigen Neuanlagen sind Sitzstangen für Greifvögel sehr nützlich, da sie als Ersatzansitz dienen und ein Abbrechen der jungen Äste verhindern.
Neben dem Pflanzen junger Obstbäume ist die Pflege ein wichtiger Beitrag zum Erhalt der Streuobstbestände. Durch sogenannte „Baumpatenschaften" erklären sich Privatleute, Vereine, Schulen etc. bereit, die Pflege eines bestimmten Obstbaumbestandes zu übernehmen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, ganze Streuobstgebiete unter Naturschutz zu stellen. Als Naturdenkmale können einzelne Obstgehölze geschützt werden, was zum Beispiel für alte Lokalsorten oder Speierlinge von großer Bedeutung ist.